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Einleitung
Das Thema der Ausstellung wurde von aktuellen Ereignissen angeregt: einer sprunghaften Zunahme von Gewalttaten seit 1992
in der Bundesrepublik, die sich vor allem gegen Menschen richten, die als "andere" wahrgenommen werden: an erster Stelle
Ausländer, aber auch Behinderte und Obdachlose, d.h. kranke und arme Menschen. Brand- und Mordanschläge forderten
inzwischen eine ganze Reihe von Toten unter diesen Opfergruppen. "Ausländerhass" wurde zur alltäglichen Meldung in den Medien,
und 1994 schien auch der Antisemitismus in schlimmster Form wieder aufzuleben: erstmals seit dem Dritten Reich brannte wieder
eine Synagoge in Deutschland. Alle diese Nachrichten klingen so, als ob fünfzig Jahre Vergangenheitsbewältigung und
Geschichtsunterricht vergebens gewesen seien: die Lehren der Geschichte werden vergessen oder - schlimmer noch - ignoriert, ja,
eine überwunden geglaubte Vergangenheit scheint wiederaufzuleben.
Das war der Ausgangspunkt für diese Ausstellung der Hessischen Staatsarchive, die das Konzept des "Lernens aus der
Geschichte" auf neue Weise aktualisieren will. Nicht chronologisch-kausal sollen Phänomene von Ausgrenzung und Gewalt in
der hessischen Geschichte zurückverfolgt werden. Insofern geht es nicht um "Wurzeln" gegenwärtigen Geschehens, also darum,
die Ursachen in weit zurückliegenden Vergangenheiten zu finden. Im Mittelpunkt des fragenden Interesses steht eine
erschreckende, augenfällig scheinende Wiederholung der Geschichte. Aber nicht als Wiederkehr des Gleichen sollen die
Phänomene von Ausgrenzung und Gewalt hier verstanden werden, sondern als Bloßlegung gleichartiger Situationen in der Vergangenheit.
An psychologisch und sozial vergleichbaren und zugleich überschaubaren Konstellationen soll der Blick auf die Gegenwart geschärft
werden. Die Ausstellung versucht, Linien von "Ausgrenzung und Gewalt" in die Geschichte zurückzuverfolgen; der Betrachter soll
wie ein ethnographischer Forschungsreisender Verhaltensmuster in der Vergangenheit studieren, um seinen durch die zeitliche
Distanz verfremdeten und - so hoffen wir - geschärften Blick dann auf die Gegenwart zu richten. Inwiefern sind Aus- oder
Abgrenzungen von Menschengruppen Ursache oder zumindest Anlass von Gewaltausübung geworden? In welchen Situationen, unter
welchen Bedingungen solch sozialer Grenzziehung entstand Gewalt? Gegen wen hat sie sich gerichtet, wer hat sie ausgeübt? Neben
den scheinbar eindeutigen Gruppen der Ketzer, Juden, Hexen werden ja auch Kranke, Arme, Bettler, "Zigeuner" aus der
Gesellschaft ausgeschlossen als Sünder, Heilandsmörder, Brunnenvergifter, Gotteslästerer, Unholde, Giftmischer,
Teufelsbuhlerinnen, boshafte Müßiggänger, verdächtiges Gesindel, Minderwertige, Gemeinschaftsunfähige und wie die
Bezeichnungen alle lauten.
Natürlich ist "Ausgrenzung" nicht die einzige Ursache von Gewalt, noch führt jede Form der Grenzziehung zu
physischer Gewaltanwendung. Aber mit Blick auf die Gegenwart wird der Versuch gewagt, am Beispiel der hessischen
Geschichte zu untersuchen, wann und wie Gewalt durch Ausgrenzung hervorgebracht worden ist, um daraus zu lernen, wie
eine durch Menschen ausgübte und gesteuerte Gewalt möglicherweise zu vermeiden ist. Insofern bekennt sich die Ausstellung
zu einer didaktischen Zielsetzung.
Sie beginnt, ganz wörtlich genommen, mit wirklichen Grenzen und Straßen, um dann Beispiele für soziale Grenzen zu zeigen.
Diese Scheidelinien, die im Mittelalter auch an Kleidung oder Wohnung körperlich sichtbar gemacht wurden, trennen nicht
Rang-, Vermögens- oder Machtgruppen, sondern fast schon Menschen von Nichtmenschen.
Den Schwerpunkt der Ausstellung bilden die "Hexenverfolgungen", die meist rasch mit "Mittelalter",
"Folter" und "Frauen" assoziiert werden. Zumindest das erste ist eindeutig falsch:
die intensive, massenhafte Verfolgung von "Zauberern", wie der juristische Fachterminus lautete, fand statt
im 16. und 17. Jahrhundert, d.h. in der Epoche der "Frühen Neuzeit", als der moderne Territorialstaat gebildet
wurde und die Grundlagen der modernen Naturwissenschaften gelegt wurden. Hexenverfolgungen als Massenphänomen
sind also eine neuzeitliche Erscheinung, die man sogar als das erste "moderne" System gesellschaftlicher
Ausgrenzung beschreiben kann. Geradezu totalitär wirken sie, kann hier doch jeder zum Opfer, fast jede
Alltagshandlung zum Indiz einer strafbaren Tat werden, so wie auch jeder aufgefordert ist, Denunziant zu sein.
"Abweichung" ist das Schlüsselwort für das Stigma, mit dem jedes Handeln versehen werden kann. Gerhard
Schormann hat die Mechanismen von Sündenbockfunktion und Verschwörungstheorie bei den Hexenverfolgungen
in Bezug zu den Verfolgungen der Juden gesetzt. Beide sind ja auch in der Hinsicht vergleichbar - und das
ist auch mit den historischen Parallelen gemeint, auf die diese Ausstellung abzielt - dass Institutionen
des Staates wie die Mehrheit der Untertanen und Bürger in Feindbild und Verfolgungsabsicht einig waren.
Ohne das verhängnisvolle Zusammenwirken beider sind diese historischen Phänomene nicht zu erklären. Aber
auch egoistisches Wegsehen wie opportunistisches Mitmachen sind Leitmotive des menschlichen Alltagsverhaltens gewesen.
Es ist schwierig, die Ursachen für Angst oder Hass zu definieren, aus denen eine Gewalt entstand, die, wenn
sie staatlich sanktioniert war, auch mit sadistischer Lust ausgeübt werden konnte. Die Gewalt der Hexenverfolgungen
richtete sich vor allem gegen Frauen, die die überwältigende Mehrheit der Opfer bildeten. Darin spiegelt sich eine
jahrhundertealte Diskriminierung: ihre mindere Rechtsstellung bestimmte die Frauen bevorzugt zu Opfern in einer
männerbeherrschten Welt. Allerdings richtete sich die Verfolgung nicht ausschließlich gegen sie. Unbeweisbar sind
Behauptungen wie die, dass "die Männer" eine geheime Schwesternschaft von "weisen Frauen" und deren geheimnisvolles
Wissen um natürliche Heilkräfte vernichten wollten oder eine "Ausrottung der Hebammen" sich zum Ziel gesetzt hatten.
Das imaginäre, nur in der Phantasie der Henker und Opfer bestehende Universum der Hexen, entpuppt sich in der Welt der
realen Alltagshandlungen schlicht und einfach als zum großen Teil identisch mit dem "Reich" der traditionell
weiblichen Tätigkeiten im Haus, bei der Kinderaufzucht, Krankenpflege, Versorgung von Tieren, Bereiten von Mahlzeiten usw.
Die Erklärung, jemand fühle sich schlecht, sei krank oder gar gestorben nach Genuss einer Suppe oder Mahlzeit, bewegt
sich auf einer Alltagsebene von naiver "Vergiftungstheorie", die auch heute noch geläufig ist. "Vergiftung" ist
manchmal auch symbolisch gemeint, wie ja veneficus (=der Giftmischer) das Synonym für "Zauberer" ist. Essen und
Trinken steht oft überhaupt für zwischenmenschliche Kommunikation und Ver"gift"ung kann dann eine bildkräftige
Formel für misslungene Kommunikation bedeuten.
Das Ende der Hexenverfolgungen kam sehr allmählich, die "Aufklärung" wurde nicht zuletzt durch harsche
Edikte von seiten der Herrscher am Ende des 17. Jahrhunderts durchgesetzt.
Magisches Denken und Zaubereiverdächtigungen gehörten nun in ein unschädliches Reservat überkommenen Aberglaubens.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts schien es auch so, als würden sich die Toleranzprinzipien der
Aufklärung kontinuierlich durchsetzen. Religiös "Andere" wurden nicht nur geduldet, sondern bewusst angesiedelt
(wie Hugenotten oder Herrnhuter) oder gezielt integriert (wie die Juden), zumindest, soweit sie sich dem
vorherrschenden Nützlichkeitsdenken einfügten. Gerade dieses Denken führte dann allerdings weiterhin zu
Ausgrenzung als Form sozialer Gewalt, etwa gegen herumziehendes "Gesindel" oder Bettler. Wirtschaftliche
Rationalität und staatlicher wie privater Egoismus bestimmten das Verhalten zu Armen und
"Anderen" im 19. Jahrhundert. Dem "Dritten Reich" blieb es im 20. Jahrhundert vorbehalten, alle Formen
gewaltsamer Ausgrenzung bis zur Massentötung von Menschen mit den Werkzeugen technischen und bürokratischen
Fortschritts zu einem einmaligen Höhepunkt zu führen. In unserer Gegenwart liegt es noch in unseren Händen,
ob das Schicksal der Aufklärung ein "Scheitern" genannt werden kann.
Thomas Lange
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